Eine Analyse von Ulrich Reitz Ausgerechnet bei Einwanderung geht der Kanzler locker mit Fakten um

FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz

Donnerstag, 29.06.2023, 17:52

Deutschland ist für Olaf Scholz "Hoffnungsland". Und zwar wegen der Einwanderung, die Deutschland nach dem Krieg groß gemacht habe. Aber taugt die Analogie? Und was meint Viktor Orban, wenn er die Bundesrepublik ein Land der "Neuankömmlinge" nennt?

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Vor dem Landesamt für Einwanderung in Berlin gibt es täglich lange Warteschlangen.

Der Bundeskanzler nennt die Bundesrepublik ein "Hoffnungsland". Er hat darüber sogar ein Buch mit dem gleichnamigen Titel verfasst. Seine Zuversicht, dass dies auch so bleibt, begründet Olaf Scholz mit der Einwanderung - und den historischen Erfahrungen des Landes damit: "Unser Wohlstand ist deshalb so groß, weil Menschen aus vielen Ländern seit den 50er, 60er Jahren daran gearbeitet haben. Unsere Weltoffenheit ist die Grundlage für unseren Wohlstand auch in der Zukunft." Angesichts der aktuellen Einwandererzahlen und deren sozialen Folgen kann man feststellen: Eine gewagte These.

Deutschland war schon ein Einwanderungsland

Scholz geht relativ locker mit historischen Tatsachen um. Die Einwanderung aus den 50er und 60er Jahren, auf die sich der Kanzler bezieht, war eine kontrollierte Einwanderung von Arbeitskräften, die Deutschland wollte. Aus diesem Grund schloss der noch junge Staat mit einer Reihe von Ländern wie der Türkei, Griechenland und Portugal Anwerbeabkommen. Der 100.000ste Einwanderer, ein Portugiese, bekam sogar öffentlichkeitswirksam ein Moped geschenkt.

Wenn Einwanderungsland bedeutet, dass ein Land nicht nur offen ist für Migration, sondern sich seine Einwanderer auch selbst aussucht, dann war Deutschland damals schon ein Einwanderungsland. Nur: Das änderte sich mit den Jahren. Der Wandel vom Einwanderungsland zum Einwanderungsland wider Willen begann schon im Jahr 1973.

Vor fast genau 50 Jahren beschloss Deutschland einen Anwerbestopp, und die Folgen waren überraschend: Die ungewollte Einwanderung nach Deutschland nahm erst einmal zu. Der Grund: Viele der eingewanderten Männer bewegten ihre Frauen und Kinder, nach Deutschland nachzukommen. Von da an änderten sich auch die sozialen Verhältnisse, die Schüler etwa wurden insgesamt diverser. Heute ist an mehr als 50 Schulen allein im Ruhrgebiet der Migrantenanteil bei 90 Prozent.

SPD-Kanzler erkannten Fehler

In der Rückschau urteilten später beide sozialdemokratischen Bundeskanzler jener Zeit, Willy Brandt und Helmut Schmidt, es sei ein Fehler gewesen, so viele Ausländer nach Deutschland einwandern zu lassen. Auch heute findet die Einwanderung nach Deutschland kaum als Arbeitsmigration statt. Sondern überwiegend als Asyl-Migration. Das zeigen die gerade erst veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes.

Und etwas anderes zeigen sie auch: Noch nie seit 1950 kamen so viele Einwanderer, aber auch noch nie verließen so viele Deutsche ihr Land. Das bedeutet: die Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland ändert sich, was vor allem die Grünen begrüßen: Deutschland werde "bunter".

Das personifizierte Kontrastprogramm zum Berliner Kanzler sitzt in Budapest. Viktor Orban sagt, Deutschland habe sich, im Gegensatz zu Ungarn, aus freien Stücken für die Migration entschieden. Es sei "ein Land von Neuankömmlingen". Die Zahlen geben Orban recht: Noch nie kamen so viele Migranten nach Deutschland wie im vergangenen Jahr: knapp 2,7 Millionen Menschen.

Die allermeisten sind Flüchtlinge, das Gros von mehr als einer Million kam infolge des russischen Angriffskrieges aus der Ukraine, überwiegend Frauen und Kinder. Aber auch die Asylzahlen aus den wichtigsten Herkunftsländern stiegen: Allein aus Syrien, Afghanistan und der Türkei kamen über das Asylrecht mehr als 170.000 Menschen nach Deutschland.

Abstimmung mit den Füßen über die Attraktivität von Deutschland

Von den 1,2 Millionen Menschen, die Deutschland im vergangenen Jahr wieder verließen, waren knapp 270.000 Deutsche. Mit anderen Worten: Mehr als 900.000 Eingewanderte haben Deutschland den Rücken gekehrt - eine Abstimmung mit den Füßen über die Attraktivität von Deutschland als Einwanderungsland.

Die knapp 270.000 Deutschen, die auswanderten - eine Rekordzahl - waren nach Angaben der Wiesbadener Statistiker überdurchschnittlich jung. Und offenkundig überdurchschnittlich gebildet, worauf man schließen kann, wenn man sich die beliebtesten Zielländer ansieht: Die Schweiz, Österreich und die Vereinigten Staaten. Länder, die eine strenge Einwanderungspolitik praktizieren, in der Alter, Qualifikation für den Arbeitsmarkt und Wohlstand zählen. Die deutschen Auswanderer waren vorwiegend männlich und im Schnitt 35 Jahre alt (die Deutschen sind im Schnitt 46 Jahre alt).

Die Ampelregierung will die Wanderungsbewegungen massiv beeinflussen. Einwanderung soll, so sagt es Scholz, Deutschlands Wohlstand sichern. Die Migrationspolitik der Ampelregierung erleichtert deshalb die Einbürgerung, indem sie Hürden dafür absenkt - auch für integrierte Asylbewerber, die man über Jahre nicht abschieben konnte.

Die Einwanderung über das Asylrecht soll über einen europäischen Flüchtlingsdeal eingedämmt werden - allerdings nur für Länder, für deren Migranten die Anerkennungsquote unter 20 Prozent liegt. Das betrifft aber nicht die Haupt-Herkunftsländer. Der politische Streit darüber - etwa bei den Grünen - ist also umgekehrt proportional zu den erwartbaren tatsächlichen Auswirkungen einer europäischen Regelung. So viel dürfte sich nicht ändern.

Bundesregierung kehrt zurück zur Einwanderungspolitik der 50er und 60er Jahre

Ein Blick auf die Migranten-Struktur:

Flüchtlinge, etwa aus Syrien, sind in der Erwerbs-Statistik unterrepräsentiert und in der Kriminalstatistik überrepräsentiert. Die Erwerbsquote liegt bei 37 Prozent, knapp Zweidrittel beziehen Bürgergeld (früher: Hartz vier).

Die Bundesregierung hat ein Einwanderungsgesetz beschlossen, dass nun nach Nancy Faeser auch Scholz das "beste der Welt" nennt. Die Bundesregierung kehrt damit in gewisser Weise zurück zur Einwanderungspolitik der 50er und 60er Jahre, auf die sich der Kanzler tatsächlich auch bezieht. Man rechnet mit bis zu 750.00 Fachkräften - und noch einmal mit 50.000 Einwanderern über eine Ausweitung der sogenannten Westbalkanregel.

Wobei mit "Fachkräften" nicht nur Ingenieure und Ärzte gemeint sind. Um attraktiver für Einwanderer aus Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union zu werden, hat die Ampel die Sprachbarriere gesenkt - erst einmal reichen 300 Wörter auf deutsch.

Hoffnungsland?

Weitgehend ungebremste Einwanderung über das Asylrecht, schnellere Einbürgerungen und eine erleichterte Einwanderung für Qualifizierte - die Ampelkoalition hat mittlerweile beschlossen, was sie in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hatte.

Die Bundesregierung hat Wort gehalten. Und Deutschland wird sich verändern - so wie von Scholz gewollt und von Orban prophezeit. Ob sich, auch angesichts der Auswanderung gut qualifizierter, jüngerer Deutscher, der Wohlstand hierzulande halten lässt, ist eine ganz andere Frage. Zumal gerade auch die in der Regel gut Qualifizierten aus der Babyboomer-Generation in Rente gehen.

Vielleicht muss man das Kanzlerwort von Deutschland als "Hoffnungsland" aber auch ganz anders verstehen. Nicht als Tatsachenbeschreibung. Sondern als ferner Wunsch.


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